23. KAPITEL
Die Akten über den Mordfall Glass lagen für Ami bereit, als sie mit Sheriff Harney vom See zurückkehrten. Sie ging alles sorgfältig durch und studierte auch die Fotos vom Tatort. Ami hatte noch nie ein Mordopfer gesehen. Der Anblick des toten Glass war so widerlich, dass ihr fast schlecht wurde.
Ami konnte jedoch nur eine einzige neue Information aus den Akten ziehen, nämlich dass keinerlei Armyunterlagen bei der Durchsuchung des Hauses gefunden worden waren. Entweder log Vanessa und hatte Glass diese Akten nie übergeben, oder Rice hatte sie auf seiner Flucht mitgehen lassen. Für Vanessa und Rice sprach, dass sie beide dieselbe Geschichte über diese Unterlagen erzählt hatten. Ami war überzeugt, dass sie seit Carls Verhaftung keine Gelegenheit mehr gehabt hatten, sich abzusprechen oder überhaupt miteinander zu reden. Dass Vanessa Personalakten von Soldaten gefunden hatte, einschließlich der von Carl, bewies natürlich nicht, dass diese geheime Einheit tatsächlich existiert hatte.
Ami hatte die letzte Akte durchgesehen, als ihr Handy klingelte. Mary O'Dell war am Apparat, die Freundin, die auf Ryan aufpasste.
»Ein Glück, dass ich dich erwische!« stieß Mary hervor.
»Du musst sofort nach Hause kommen!«
»Was ist passiert?« Ami fürchtete, dass Ryan etwas passiert sein könnte.
»Die Polizei war hier. Sie suchen dich.«
»Mich? Weshalb denn?«
»Der Mann, der bei dir gewohnt hat, ist geflüchtet. Es ist in allen Nachrichten.« Ami fuhr so schnell sie konnte zum Flughafen von San Francisco und nahm die erste Maschine nach Portland. Detective Walsh hatte seine Nummer bei Mary hinterlassen. Ami hatte ihn angerufen, während sie auf das Einchecken wartete. Walsh bestätigte, dass ihr Mandant aus der geschlossenen Abteilung geflohen war, wollte Ami aber am Telefon keine weiteren Informationen geben.
Walsh hatte einen Polizisten zum Flughafen geschickt, der bereits am Gate wartete, als Amis Maschine in Portland landete. Fernsehteams und ein größeres Aufgebot an Polizeiwagen verstärkten das für jedes Krankenhaus übliche Chaos. Amis Eskorte führte sie durch die Medienmeute in der Lobby und in den Aufzug. Als der Lift anhielt, trat Ami hinaus und landete in einer Gruppe von Beamten der Spurensicherung, uniformierten Polizisten und einigen Männern in Anzügen. Brendan Kirkpatrick sprach mit einem Beamten an der Tür der geschlossenen Abteilung und unterbrach sich mitten im Satz, als er Ami sah.
»Mrs. Vergano, schön Sie zu sehen«, begrüßte er sie kühl.
»Was ist passiert?«
»Ihr Schützling ist mit der Hilfe einer Frau entkommen. Sie hatten Glück, dass Sie in Kalifornien waren, sonst hätte ich Sie sofort verhaften lassen.«
Ami sah ihn furchtsam an. Ihr stockte fast der Atem.
»Ich weiß davon nichts. Und ich habe ihm auch nicht zur Flucht verholfen.«
»Wem haben Sie nicht zur Flucht verholfen, Mrs. Vergano? Wie lautet der wirkliche Name Ihres Mandanten, und wer ist diese Frau?«
Ami fühlte sich vollkommen hilflos. »Ich darf Ihre Fragen nicht beantworten, Brendan. Die Aussagen meines Mandanten unterliegen der anwaltlichen Schweigepflicht.« »Ich werde Sie morgen in aller Herrgottsfrühe vor einen verdammten Richter zerren!«
»Sie müssen mir glauben!« flehte Ami ihn an. »Ich würde Ihnen helfen, wenn ich könnte.«
Kirkpatrick stieß vernehmlich die Luft aus. »Ich fahre Sie schon wieder an. Es tut mir leid. Ich bin vollkommen erschöpft.«
»Glauben Sie mir, ich würde mit Ihnen zusammenarbeiten, wenn ich könnte. Ich sage Ihnen alles, was ich weiß, wenn der Richter das anordnet.«
Plötzlich wurde Ami klar, dass Carl auf der Station eingesperrt und von einem Polizisten und mindestens zwei Pflegern bewacht worden war.
»Ist jemand verletzt worden?« erkundigte sie sich.
»Ihr Mandant hat einen der Pfleger mit einer Pistole niedergeschlagen. Die Platzwunde musste genäht werden. Sonst ist niemand verletzt worden.«
»Wie ist er entkommen?«
»Eine Frau hat sich als Filmproduzentin ausgegeben und Dr. Ganett dazu gebracht, sie auf die Station zu führen. Offensichtlich hat er aus seinem Erlebnis mit Ihnen nichts gelernt.«
Ami errötete.
»Die Pfleger waren so begeistert, in einem Film mitzuspielen, dass sie die Frau nicht einmal durchsucht haben. Sie hatte zwei Pistolen in ihrer Tasche. Morelli und die Frau haben das Personal in ein leeres Krankenzimmer gesperrt und sind verschwunden. Bis jetzt haben wir keine Ahnung, wo sie sind oder wohin sie wollen.«
Kirkpatrick wollte noch etwas sagen, als Detective Walsh aus dem Aufzug trat. Er schien aufgeregt zu sein.
»Entschuldigen Sie uns bitte, Mrs. Vergano«, sagte er, während er den Staatsanwalt außer Hörweite zog. Als Walsh sprach, beobachtete Ami, wie Kirkpatrick immer aufgeregter wurde. Sie hörte, wie er fluchte. Dann kamen die beiden Männer zu ihr zurück.
»Schluss mit den Spielchen, Ami«, zischte Kirkpatrick, der seine Wut kaum noch zügeln konnte. »Wir brauchen den Namen der Frau und alles andere, was Sie uns noch sagen können.«
»Was ist passiert?«
»Dr. George French ist tot. Ermordet«, erklärte Walsh.
Ami wurde kalkweiß. Ihre Beine gaben unter ihr nach. Kirkpatrick hielt sie fest, damit sie nicht stürzte.
»Bringen Sie ihr ein Glas Wasser«, bat der Staatsanwalt Walsh, während er Ami zu einem Stuhl führte. Als Walsh mit einem Becher Wasser zurückkehrte, liefen Ami die Tränen über die Wangen.
»Er war so ein guter Mensch«, schluchzte sie. Kirkpatrick schaute durch das Fenster aufs Meer hinaus, und Walsh kniete sich neben Ami und hielt ihr den Becher an den Mund.
»Sie müssen uns helfen, Ami«, sagte der Detective. »Wissen Sie, wer die Frau ist? Haben Sie eine Ahnung, wohin sie fliehen könnten?«
»Wieso glauben Sie, dass mein Mandant Dr. French getötet hat?« wollte Ami wissen. Die Frage klang eher wie ein Hilferuf.
»Wir wissen es nicht, aber das ist schon ein verteufelter Zufall.«
Plötzlich schoss Ami ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf. »Wie wurde George ... ?«
Walsh zögerte mit einer Antwort. »Es sieht so aus, als wäre er aus seinem Haus entführt und in sein Büro gebracht worden«, erwiderte er.
»Wurde er erschossen?« fragte Ami. Sie hoffte inständig, dass Walsh ihre Frage bejahte.
»Nein.« Walsh zögerte wieder
»Bitte, es ist wichtig!«
»Er wurde gefoltert, und dann wurde ihm die Kehle durchgeschnitten.«
Ami kniff die Augen fest zusammen. Sie fühlte sich elend.
Am liebsten hätte sie Ryan genommen und wäre weggelaufen, aber zuerst musste sie etwas anderes tun.
»Bringen Sie mich zum Tatort?«
»Ich glaube nicht, dass ...«, begann Walsh.
»Bitte«, unterbrach sie ihn. Sie erinnerte sich an die Fotos vom Tatort aus den Akten des Kongressabgeordneten. »Ich kann es Ihnen nicht erklären, aber ich muss den Tatort sehen.«
Auf der Fahrt dorthin erfuhr Ami, dass das Reinigungspersonal in Frenchs Bürogebäude die Leiche des Arztes gefunden hatte. Ein Streifenwagen war zum Haus des Arztes geschickt worden. Die Beamten fanden dort die Leiche seiner Frau vor. Walsh glaubte, dass die Frenchs geschlafen hatten, als der Mörder eingebrochen war. Man hatte sein Schlafzimmer und sein Arbeitszimmer durchsucht, und Walsh vermutete, dass der Killer nicht gefunden hatte, wonach er suchte. Daraufhin hatte er den Psychiater in die Stadt gebracht. Der Safe und die Aktenschränke in Frenchs Büro waren aufgebrochen worden, und die Akten lagen verstreut auf dem Boden.
Als sie vor dem Bürogebäude hielten, wurde Ami zu Frenchs Praxis gebracht. Als sie vom Empfangsbereich in das Behandlungszimmer des Arztes gingen, stieg Kirkpatrick der widerliche Gestank frischer Leichen in die Nase, der jedem Mordschauplatz anhaftete. Er sah Ami an. Sie war blass und schwankte leicht.
»Sind Sie sicher, dass Sie das sehen wollen?« fragte er.
Ami antwortete nur mit einem Nicken, weil sie den Atem anhielt, um den Gestank nicht wahrzunehmen. Sie hoffte, dass sie sich nicht übergeben musste
Als sie an der Tür des Büros ankamen, presste Ami ihre Augen fest zusammen und öffnete sie dann langsam wieder, um die Leiche anzusehen. Das Büro glich einem Schlachthaus. Der Couchtisch und der Teppich waren mit Blutspritzern übersät. Ihr Magen brannte, Galle stieg ihr in die Speiseröhre.
Ami konzentrierte sich auf zwei nackte Füße, die mit Klebeband an den Fuß eines Drehstuhls in der Mitte des Raumes gefesselt waren. Sie waren ebenfalls blutüberströmt und wiesen Spuren von Schlägen auf. Ami erinnerte sich an das, was Carl Rice über die Neigung der Nordvietnamesen erzählt hatte, seine Füße zu misshandeln. Langsam glitt ihr Blick höher. French trug eine blutverschmierte Pyjamahose. Ami rang nach Luft, riss sich aber zusammen. Sie hob den Kopf und betrachtete dann das, was von Doktor George French übrig geblieben war. Man hatte ihn mit Klebeband an den Stuhl gefesselt. Seine Brust war entblößt, und sein ganzer Oberkörper war von tiefen Schnitten übersät. Sie blickte auf ein Spiegelbild des Tatortes im Haus des Kongressabgeordneten Eric Glass.
Ami taumelte aus dem Zimmer. Kirkpatrick musste sie fast ins Wartezimmer tragen. Dort setzte er sie auf eine Couch und reichte ihr eine Wasserflasche, die er vorrausschauend mitgenommen hatte. Walsh und Kirkpatrick warteten ungeduldig, bis Ami sich wieder erholt hatte.
»Können Sie uns den Namen der Frau und Morellis richtigen Namen verraten?«
Ami sah aus, als wäre sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich müsste dafür meine Schweigepflicht verletzten.« Ihre Stimme zitterte, als sie ein Schluchzen unterdrückte.
»Können Sie uns wenigstens sagen, ob etwas von dem, was Sie in dem Büro gesehen haben, Sie glauben lässt, dass Morelli der Täter war?« drängte Walsh. »Das wäre ja Ihre eigene Meinung, nichts, was Ihr Mandant Ihnen anvertraut hat.« »Er war es«, erwiderte Ami. »Ich kann Ihnen nicht sagen, woher ich das weiß, aber ich weiß es.«
»Brendan, schaffen Sie Mrs. Vergano gleich morgen früh zu einem Richter. Ich stelle sie in der Zwischenzeit unter Polizeischutz.«
»Warum?« fragte Ami ungläubig.
»Morelli ist nicht geflohen«, erklärte Walsh. »Er ist hier in Portland geblieben, obwohl jeder Polizist in der Stadt nach ihm sucht. Ich glaube, er versucht alle Aufzeichnungen von dem zu zerstören, was er Ihnen und French erzählt hat. Wären Sie nicht unterwegs gewesen, wären Sie vermutlich ebenfalls tot.«
Ami war bereits verängstigt, doch seine Worte entsetzten sie.
»Er würde mich doch jetzt nicht mehr umbringen! Er kann sich bestimmt denken, dass ich mit Ihnen gesprochen habe!«
»Er weiß aber nicht genau, ob Sie uns alles erzählt haben, was Sie wissen. Vielleicht geht er davon aus, dass Sie sich an Ihre Schweigepflicht gehalten haben. Wenn er vorhat, Sie umzubringen, bevor Sie reden, muss er das heute Nacht versuchen. Ich habe bereits einen Wagen zu Mary O'Dells Haus geschickt, damit Ihr Sohn beschützt wird.«
»O Gott!« stöhnte Ami und sank zusammen. »Was soll ich bloß tun?«
»Gehen Sie nach Hause und versuchen Sie, sich auszuruhen«, riet Kirkpatrick. »Sonst klappen Sie mir noch zusammen.«
»Nein, ich möchte Ryan sehen.«
»Das ist keine gute Idee«, widersprach Walsh. »Wenn Morelli es auf Sie abgesehen hat, sollten Sie lieber nicht in der Nähe Ihres Sohnes sein.«